Wien ist k/ein Vorbild

Wien, ein Paradies für Mieter? Wohl jeder, der sich für das gemeinschaftliche Wohnen interessiert, hat schon einmal davon gehört, dass der soziale Wohnungsbau in der österreichischen Hauptstadt breiten Bevölkerungsschichten zugänglich ist. Im »Tagesspiegel« zum Beispiel schrieb der Berliner SPD-Abgeordnete Klaus Mindrup im April 2019: »Das Kunststück in Wien besteht darin, kontinuierlich zu fördern, zu bauen und bauen zu lassen, weil dadurch die große Zahl Sozialwohnungen auch am gesamten Wohnungsbestand erhalten bleibt – und das hält die Mieten in der Stadt an der Donau in allen Bezirken bezahlbar bis niedrig.«

Klingt gut. Ganz anders klang das allerdings heute auf »Spiegel.de«, wo ein Interview mit Harald Simons, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Wirtschaft, Technik und Kultur Leipzig, mit dem Zitat übertitelt ist: »Wien ist kein Vorbild«. Simons zeigt sich darin selbst über die Ergebnisse seiner Studien zum Wiener Wohnungsmarkt überrascht. Ja, die Miete sei in vielen Fällen geringer. Dafür haben die Mieter mehr Betriebs- und Instandhaltungskosten zu bezahlen und auch insgesamt mehr Pflichten.

Und ja: Wiener Wohnen, das größte kommunale Wohnungsunternehmen Europas und im Besitz der Stadt Wien, »hat ein extrem niedriges Mietniveau«. Aber: Das Unternehmen arbeite nicht nachhaltig und habe kein Geld für Modernisierungen und schon gar nicht für Neubauten – »die Mieterstruktur (verschiebt sich) in Richtung sozial schwacher Haushalte«.

Und selbst den Umstand, dass die Stadt Wohnungen von Genossenschaften oder privaten Bauträgern fördert, kritisiert der Wissenschaftler: »Das sind keine Sozialwohnungen, das ist eine sehr teure Förderung des selbstgenutzten Wohneigentums. Was dort stattfindet, ist eine Umverteilung von unten nach oben.«

Der »Mythos, es wäre toll in Wien zu wohnen, (ist) weit verbreitet«, schließt Simons. »Aber eigentlich steckt nichts dahinter.« Zwar dürfte er mit seiner Einschätzung auch auf Widerspruch treffen. Ein wichtiger Beitrag zur Debatte über die Zukunft des Wohnungbaus ist seine Studie aber in jedem Fall.

»Irrsinn auf dem Wohnungsmarkt«

Haben Sie eine halbe Stunde Zeit? Und wollen Sie einmal so richtig wütend werden? Dann sei Ihnen diese Dokumentation aus der Reihe ZDFzoom empfohlen: »Irrsinn auf dem Wohnungsmarkt – von Leerstand bis Luxusmieten«.

Regisseurin Renate Werner traf für ihren halbstündigen Film Mieter, Makler und Minister, dokumentiert die illegale Umwidmung von Räumen zu Gewerbeflächen, beschreibt das Versagen der Mietpreisbremse ebenso wie des Mietspiegels und berichtet – zum Teil mit versteckter Kamera – über groteske Beispiele von Preistreibereien und umtriebigen »Herausmodernisierern«.

Besonders erschreckend: 632.000 Stadtwohnungen in Deutschland, so hat Werner herausgefunden, standen zur Zeit ihrer Recherchen trotz der Wohnungsnot leer.

Noch bis April 2019 ist der Film aus dem Jahr 2016 in der ZDF-Mediathek zu finden. Aber auch auf Renate Werners vimeo-Kanal lässt er sich abrufen. Die Zahl der Zuschauer, die ihn auf YouTube als Raubkopie gesehen haben, gehen bereits in die Zehntausende.

»Irrsinn auf dem Wohnungsmarkt – von Leerstand bis Luxusmieten«: Sehenswerte ZDF-Dokumentation (30 Minuten) aus dem Jahr 2016